Audio­bei­tragUnd wer denkt an uns?

Hanna Veiler kam als jüdi­sche Geflüch­tete von Bela­rus nach Deutsch­land. Als Akti­vis­tin setzt sie sich heute für die Sicht­bar­keit jüdi­schen Lebens ein – so auch in ihrem preis­ge­krön­ten Audio­bei­trag. Jetzt anhö­ren!

Jetzt den Audio­bei­trag „Und wer denkt an uns?“ anhö­ren!

– Vorge­le­sen von der Autorin Hanna Veiler

„Und wer denkt ans uns?“ – Der Audio­bei­trag als Text zum Nach­le­sen

Ich leerte den Inhalt meiner Tasche auf meinem Teppich aus. Meine Freun­din­nen und ich saßen im Kreis auf dem Boden und bestaun­ten unser Diebes­gut. Eine Stunde zuvor waren wir im „Müller“. Wir hatten alles mitge­hen lassen. Schminke, Nagel­lack und Parfüm. Es war so einfach. Man musste nur den Aufkle­ber mit dem Strich­code abzie­hen und das Produkt einste­cken, solange es niemand sah.

Über das Fremd­sein und Scham

Wir waren alle Jüdin­nen. Aber niemand von uns hatte je Shab­bat1, Chanukka2 oder Purim3 gefei­ert. Doch uns allen war Novy God4 heilig. Keine von uns hatte zu diesem Zeit­punkt nennens­werte Erfah­run­gen mit Anti­se­mi­tis­mus gemacht, aber wir alle schäm­ten uns für unsere Namen, den russi­schen Akzent unse­rer Eltern und die Art und Weise, wie unsere Wohnun­gen einge­rich­tet waren. Unser Fremd­sein und die Scham hatten uns zusam­men­ge­bracht.

Prekäre Verhält­nisse und Unsicht­bar­keit

Ich war die einzige im Freun­des­kreis, deren Eltern es geschafft hatten, ihre Diplome aner­kannt zu bekom­men. Die Eltern der ande­ren lebten von Hartz IV, die Mütter putz­ten und die Väter tran­ken. Ich hatte es nicht nötig zu klauen. Ich tat es aus Lange­weile. In der verbon­z­ten Klein­stadt, in der wir lebten, waren wir unsicht­bar. Niemand hatte an uns gedacht. Also verbrach­ten wir unsere Frei­zeit auf Park­bän­ken und Aussichts­punk­ten, wir tran­ken und kiff­ten zwischen teuren Autos und Gucci-Stores.

Jüdi­sches Leben jenseits der Klischees und Vorur­teile

Etwas später erklärte mir ein Mitschü­ler, Juden würden die Welt beherr­schen.5 Ich dachte an meine Freun­din­nen, an meine und ihre Fami­lien. Wir beherrsch­ten gar nichts. Wir klau­ten billige Schminke, um die Scham zu über­de­cken. Wir tran­ken viel zu früh viel zu viel, um bemerkt zu werden.

Wenn man sich Juden vorstellt, denken alle an die Roth­schilds6 und Mandel­baums dieser Welt. Aber wer denkt an die Veiler, Basi­nas und Dudkins? Wir waren unsicht­bar und wir blei­ben es noch immer. Wer also denkt an uns?

© privat

Hanna Esther Veiler wurde 1998 in Bela­rus gebo­ren. 2018 begann sie ihr Kunst­ge­schichts­stu­dium in Tübin­gen und grün­dete 2019 die Jüdi­sche Studie­ren­den­union Würt­tem­bergs mit. Seit 2018 enga­giert sie sich in der Jüdi­schen Studie­ren­den­union Deutsch­land (JSUD) und ist seit 2023 deren Präsi­den­tin. Neben ihrem Enga­ge­ment als Akti­vis­tin ist sie als Publi­zis­tin tätig und veröf­fent­licht Arti­kel bei Zeit Online, der taz und der Jüdi­schen Allge­mei­nen. Darüber hinaus teilt sie ihr Wissen als poli­ti­sche Bild­ne­rin über Insta­gram unter @hannaesther__ oder bei Work­shops und Vorträ­gen zu Themen wie Anti­se­mi­tis­mus, Rassis­mus, post­so­wje­ti­scher Geschichte und kriti­scher Erin­ne­rungs­kul­tur.

2024 wurde Hanna Veiler mit dem Preis „Frau Euro­pas 2024“ ausge­zeich­net für ihr Enga­ge­ment als „eine heraus­ra­gende Stimme des jüdi­schen Lebens in Europa“. Der Preis wird von der Euro­päi­schen Bewe­gung Deutsch­land e.V. verge­ben.

@hannaesther__
@HannaVeiler

  1. Der Shab­bat ist im Juden­tum der wöchent­li­che Ruhe­tag. Er beginnt am Frei­tag­abend und dauert bis Sams­tag­abend. An diesem Tag soll keine Arbeit verrich­tet werden. ↩︎
  2. Chanukka ist das jüdi­sche Lich­ter­fest und dauert acht Tage. Es wird jähr­lich zum Geden­ken an die Wieder­ein­wei­hung des zwei­ten Tempels in Jeru­sa­lem began­gen. ↩︎
  3. Purim ist ein jüdi­sches Fest, dass an die Rettung persi­scher Jüdin­nen und Juden erin­nert. Es gilt als eine Art jüdi­scher Karne­val, da sich die Menschen zur Feier gerne verklei­den. ↩︎
  4. Novy God heißt über­setzt „Neues Jahr“. In Russ­land und vielen post­so­wje­ti­schen Ländern wird so das Neujahrs­fest bezeich­net. Der Feier­tag wurde von der Sowjet­union als säku­la­rer Feier­tag geför­dert, der Weih­nach­ten erset­zen sollte. Der Feier­tag wird auch heute noch in Russ­land und Ländern der ehema­li­gen Sowjet­union oder von migran­ti­schen Commu­ni­tys welt­weit gefei­ert. ↩︎
  5. Die krude Idee jüdi­sche Menschen würden die Welt beherr­schen, ist eine weit­ver­brei­tete anti­se­mi­ti­sche Verschwö­rungs­er­zäh­lung, die seit Jahr­hun­der­ten Hass und Hetze schürt. ↩︎
  6. Roth­schild ist der Name einer berühm­ten jüdi­schen Bankiers­fa­mi­lie. Die Fami­lie Roth­schild stammte aus einfa­chen Verhält­nis­sen aus der Frank­fur­ter Juden­gasse. Mit Mayer Amschel Roth­schild begann im 18. Jahr­hun­dert ihr Aufstieg. Gemein­sam mit seinen Söhnen gelang es ihm, ein bedeu­ten­des Banken­im­pe­rium aufzu­bauen. Der Name der Fami­lie wird in anti­se­mi­ti­schen Verschwö­rungs­theo­rien sehr häufig als Code für „die Juden“ verwen­det. Wenn Verschwö­rungs­gläu­bige also z.B. behaup­ten, „die Roth­schilds“ würden das Welt­ge­sche­hen oder die Finanz­welt lenken, meinen sie damit eigent­lich „die Juden“ und schü­ren so Anti­se­mi­tis­mus in der Gesell­schaft. ↩︎

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