Soziale Netzwerke können so viel sein – ein Ort der Selbstinszenierung und Hassrede, aber auch des Protestes oder Informationsaustauschs und ein nützliches Werkzeug im Kampf für Demokratie. Die preisgekrönte Autorin Shida Bazyar nimmt diesen virtuellen Raum genauer unter die Lupe.
Wenn soziale Medien ein Ort wären, dann wären sie die Raucherecke. Es stinkt, es ist dreckig, du nimmst dir regelmäßig vor, nicht mehr dorthin zu gehen und irgendwie landest du am Ende trotzdem dort. Rauchst, obwohl du rauchen eklig findest, hörst dir Gerüchte an, obwohl du weißt, dass sie nicht stimmen, beobachtest Leute, von denen du weißt, dass sie um jeden Preis beobachtet werden wollen. Hinterher stinkst du und du ärgerst dich darüber, dass du nicht einfach deine große Pause auf dem Schulhof verbracht hast, in der Sonne, spazieren gehend, eine echte Pause hattest. Dass du nicht dazu lernst. Dass du dir das antust.
Die Vor- und Nachteile sozialer Netzwerke
Aber dann fällt dir ein, dass die relevanten Gespräche leider dort und nicht in der Sonne stattfinden, dass der Gossip, den man dort austauscht, wichtig ist, um hinterher dann mit deinen Leuten die richtigen Erkenntnisse zu teilen; dass du ohne die Raucherecke nicht von der nächsten Party erfahren hättest, und auch nicht von der nächsten Demo; dass du nicht wüsstest, welche Trends es gibt und was man heute nicht mehr sagen sollte.

Und trotzdem stören dich die Nachteile, nicht nur die stinkenden Haare und der frühere Tod, sondern auch die Tatsache, dass du dich dabei ertappst, wie du vor dem Spiegel stehst und so tust, als würdest du rauchen, weil die Selbstinszenierung der anderen dich beeindruckt, auch wenn du sie durchschaust und verachtest. Morgen, denkst du dir, morgen gehst du nicht mehr hin, aber dann fällt dir auf, dass das, was du im Spiegel siehst, zu schade ist, um es nicht den anderen zu präsentieren und here we go, jeden Tag das gleiche Spiel.
Als Autorin auf Social Media präsent sein – ja oder nein?
Wenn man Autorin ist, will man sehr vieles: dass Menschen die eigenen Texte und Bücher lesen, dass man öffentlich zu den eigenen Themen sprechen darf, dass man Lesungen hält und da seine Leser*innen trifft. Und das ein oder andere Buch möchte man auch gerne verkaufen, denn irgendwie muss man ja die Miete zahlen. Das alles geht nur, wenn man öffentlich präsent ist und dafür ist Social Media natürlich wichtig. Ich wollte das lange nicht wahrhaben, ich habe lange gedacht:
„Ich bin Autorin, ich will durch meine Bücher leben!“
Deswegen bin ich ziemlich spät zur Party dazugestoßen. Aber ich habe auch aus anderen Gründen sehr lange gezögert, mich als Autorin in sozialen Netzwerken aufzuhalten. Vor allen Dingen habe ich immer gedacht: Das ist mir zu dreckig.
Ganz schön laut hier! Soziale Netzwerke als virtuelle Raucherecke
Denn die digitale Raucherecke, die ich da betreten würde, wäre eben keine, in der man zu dritt steht und über das Wochenende plaudert, sondern eine, in der alle einander anbrüllen und anschreien, mit Stühlen und Steinen werfen; in der jede*r alles besser weiß und alle dabei mit dem Finger auf die zeigen, die Fehler gemacht haben. Während man zurückbrüllt und den nächsten belehrt, sich über die eigene Pointe freut und im nächsten Moment von der Antwort beleidigt wird, stehen hinter dir drei Leute, die größer sind als du und die es ok finden, deswegen in regelmäßigen Abständen auf deinen Kopf zu aschen.
Und immer, wenn du am wenigsten damit rechnest, drückt jemand seine Zigarette an deinem Nacken aus und wenn du dich umdrehst, war niemand Schuld und niemand hat es gesehen und sorry, aber das gehört hier nun einmal so dazu, kannst ja beim nächsten Mal einen Spaziergang in der Sonne machen, wenn du damit nicht klarkommst.
Warum tun sich Menschen das an?
Um nochmal auf die reale Welt zurückzukommen: Ich habe jahrelang nicht verstanden, warum so kluge Leute des öffentlichen Lebens, die ich schätze und bewundere, sich das antun. Warum sie nicht besser auf sich aufpassen, indem sie aufhören, öffentlich mit unklugen Leuten zu debattieren. Denn es liegt ja auf der Hand, dass es immer die gleichen Leute sind, auf denen man glaubt, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, Zigaretten ausdrücken und rum-aschen zu können. Ich dachte immer: Das ist es ja wohl nicht wert.
Positiver Effekt von Social Media: Austausch mit anderen Fans und Nerds
Letztlich waren es Corona und der Lockdown, die mich in die Knie gezwungen bzw. in die Raucherecke gezogen bzw. zu Social Media getrieben haben. Als mein zweiter Roman erschien, waren keine Lesungen möglich und ich vermisste es so sehr, Kontakt zu meinen Leser*innen zu haben. Und da verstand ich erst, was für ein reges und offenes, was für ein schönes Gespräch über Literatur im Allgemeinen genau dort stattfindet. Das hätte ich mir auch ohne Corona und Lockdown geben müssen: ganz normale Menschen, die über ihre Leidenschaft reden. Ich glaube, es ist völlig egal, ob dein Hobby Literatur oder Gärtnern oder der Weltraum ist, es gibt nichts Schöneres, als auf andere Fans und Nerds zu treffen. Und seitdem stehe ich also auch in der Raucherecke rum, auch wenn ich nicht so wahnsinnig viel dort mache.
Frau, Leben, Freiheit – Proteste im Iran
So richtig etwas „gemacht“ habe ich erst, als im September 2022 der Mord an Jina Mahsa Amini dazu führte, dass unzählige Menschen in Iran zu lauten Protesten ansetzten. Es gab Hoffnung, es gab aber auch von Anfang an sehr viele Tote zu beklagen. Regime wie das der Islamischen Republik Iran fühlen sich in der Position, durch ihr Morden und ihre Gewalt alles tun und lassen zu können, was sie möchten und obwohl jede*r darüber Bescheid weiß, müssen sie ein gewisses Maß an Geheimnistuerei aufrechterhalten. Leichen werden verschleppt, um die eigenen staatlichen Morde zu vertuschen, um nur ein Beispiel zu nennen. Je weniger Individualität die Ermordeten haben, je weniger man über die Menschen weiß, desto weniger mobilisiert es für weitere Proteste.
Mit Social Media gegen das iranische Regime
Social Media macht auf unglaubliche Weise genau das, was das Regime fürchtet. Hier wird der Toten gedacht, hier werden sie durch geteilte Fotos und Videos wieder zu den Menschen, um deren Leben man trauert. Hier wird der Mut, den die Protestierenden – die Frauen ohne Kopftücher, aber auch all die anderen – zeigen, in Bilder gefasst, geteilt, um die Welt geschickt. Hier setzen wir Hashtags vor Namen und versuchen, sie vor Hinrichtungen zu schützen.

Die Islamische Republik Iran hat im Jahr 2023 rund 900 Menschen exekutiert. Jede einzelne Exekution ist als politisch zu bezeichnen, ganz gleich, was das Strafdelikt war. Welche Zahl wir aber nicht kennen: Wie viele Exekutionen nicht stattfanden, weil der digitale Aufschrei so groß war, dass die Machthaber sich tatsächlich nicht trauten. Wie viele Gefangene freigelassen wurden, weil die Familien und ihre (digitalen) Unterstützer*innen sich lauthals wehren konnten. Es gibt keine Messlatte für „Erfolge“, wenn das Grauen so groß ist, wie es in Iran der Fall ist. Aber es gibt dennoch die unumgängliche Tatsache, dass der digitale Kampf ein wesentlicher Bestandteil des tatsächlichen Kampfes um Demokratie und Menschenrechte ist.
Social Media als Informationsquelle
Als ich im sicheren Deutschland saß und meine Timeline voll von diesen grauenhaften Bildern und zugleich von diesen Zeugnissen digitaler Kunst war („Baraye“ von Shervin Hajipour war der Soundtrack dieser Zeit, und auch dieses Lied basiert auf Tweets, die der Sänger von ganz normalen Revoltierenden zusammengetragen hatte), war ich extrem froh, Zugang zu haben, wo mir sonst all die Jahre davor nur die trockenen, leider allzu oft fehlerhaften Berichterstattungen deutscher Medienhäuser zur Verfügung standen.
Das aufklärerische und demokratiestützende Potential sozialer Netzwerke
Es gäbe zahllose weitere globale und nationale Konfliktlagen, in denen man auf ähnliche Art und Weise benennen könnte wie Gerechtigkeit – oder zumindest das Sprechen über Ungerechtigkeit – nicht ohne die virtuelle Raucherecke hätte erreicht werden können. Das klingt wie eine solche Binsenweisheit, dass man darüber fast vergisst, dass es gar kein Naturgesetz ist, dass ein solcher Raum automatisch ein Raum der Gewalt sein muss. Es muss nicht stinken, nur weil Menschen digital zusammenkommen. Es muss auch keinen Rauch, es muss keine Gefahren für Einzelne geben, nur weil Menschen digital zusammenkommen.
Wir haben als Gesellschaften einen Raum des Austausches geschaffen, ohne vorab Regeln und Bedürfnisse abzustimmen. Wir handeln diese innerhalb der digital geführten Diskussionen aus, während wir so etwas doch normalerweise vor den eigentlichen Diskussionen klären sollten. Mit Blick auf das aufklärerische und progressive, demokratiestützende Potenzial sozialer Medien nämlich ist es wirklich überhaupt keine folgerichtige Notwendigkeit, diese in der Raucherecke anzusetzen.
Social Media als Gemeinschaftsküche
Wie viel schöner wäre es doch, ich hätte diesen Text so angefangen, wie ich ihn jetzt – als optimistischer Mensch – beenden werde: Wenn die sozialen Medien ein Ort wären, dann wären sie die Gemeinschaftsküche einer Wohngemeinschaft. Alle kochen etwas, manchmal miteinander, manchmal jede*r für sich, alle wissen, wer was besonders gut zubereiten kann und wer dann doch eher andere Stärken hat. Manchmal zeigt man einander, wie eine Zubereitung geht, manchmal experimentiert man gemeinsam, manchmal einigt man sich: du Hauptgericht, wir Nachtisch.
„Wenn die sozialen Medien ein Ort wären, dann wären sie die Gemeinschaftsküche einer Wohngemeinschaft.“
Manchmal hat niemand aufgeräumt und alle ärgern sich über das Chaos, manchmal streiten alle, weil sie sich gegenseitig die Schuld dafür geben. Manchmal bringt wochenlang niemand den Müll raus, dann braucht man ein neues System und manchmal ist der Kühlschrank so voll, dass man sich nicht entscheiden kann. Immer verändert sich etwas, immer ist etwas im Wandel und immer werden alle satt. Hier raucht man eher nicht, wenn, dann nur auf dem Balkon. Jeden Tag riecht es dafür anders in der Küche und immer ist der Duft so, dass man wiederkommen möchte. Um zu essen, um zu reden, um zu streiten, um gemeinsam aufzuräumen und sich für den nächsten Tag zu verabreden.
Über die Autorin

Shida Bazyar, geboren 1988 in Hermeskeil, studierte Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Neben dem Schreiben war sie viele Jahre in der Jugendbildungsarbeit aktiv. Ihr Debütroman „Nachts ist es leise in Teheran“ erschien 2016 im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie den Bloggerpreis für Literatur, den Ulla-Hahn-Autorenpreis und den Uwe-Johnson-Förderpreis und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2021 wurde ihr zweiter Roman „Drei Kameradinnen“ veröffentlicht, der im gleichen Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand.