EssayStop smoking, start cooking

Soziale Netz­werke können so viel sein – ein Ort der Selbst­in­sze­nie­rung und Hass­rede, aber auch des Protes­tes oder Infor­ma­ti­ons­aus­tauschs und ein nütz­li­ches Werk­zeug im Kampf für Demo­kra­tie. Die preis­ge­krönte Autorin Shida Bazyar nimmt diesen virtu­el­len Raum genauer unter die Lupe.

Wenn soziale Medien ein Ort wären, dann wären sie die Raucher­ecke. Es stinkt, es ist dreckig, du nimmst dir regel­mä­ßig vor, nicht mehr dort­hin zu gehen und irgend­wie landest du am Ende trotz­dem dort. Rauchst, obwohl du rauchen eklig findest, hörst dir Gerüchte an, obwohl du weißt, dass sie nicht stim­men, beob­ach­test Leute, von denen du weißt, dass sie um jeden Preis beob­ach­tet werden wollen. Hinter­her stinkst du und du ärgerst dich darüber, dass du nicht einfach deine große Pause auf dem Schul­hof verbracht hast, in der Sonne, spazie­ren gehend, eine echte Pause hattest. Dass du nicht dazu lernst. Dass du dir das antust.

Aber dann fällt dir ein, dass die rele­van­ten Gesprä­che leider dort und nicht in der Sonne statt­fin­den, dass der Gossip, den man dort austauscht, wich­tig ist, um hinter­her dann mit deinen Leuten die rich­ti­gen Erkennt­nisse zu teilen; dass du ohne die Raucher­ecke nicht von der nächs­ten Party erfah­ren hättest, und auch nicht von der nächs­ten Demo; dass du nicht wüss­test, welche Trends es gibt und was man heute nicht mehr sagen sollte.

© Azam­Ka­mo­lov | Pixa­bay

Und trotz­dem stören dich die Nach­teile, nicht nur die stin­ken­den Haare und der frühere Tod, sondern auch die Tatsa­che, dass du dich dabei ertappst, wie du vor dem Spie­gel stehst und so tust, als würdest du rauchen, weil die Selbst­in­sze­nie­rung der ande­ren dich beein­druckt, auch wenn du sie durch­schaust und verach­test. Morgen, denkst du dir, morgen gehst du nicht mehr hin, aber dann fällt dir auf, dass das, was du im Spie­gel siehst, zu schade ist, um es nicht den ande­ren zu präsen­tie­ren und here we go, jeden Tag das glei­che Spiel.

Wenn man Autorin ist, will man sehr vieles: dass Menschen die eige­nen Texte und Bücher lesen, dass man öffent­lich zu den eige­nen Themen spre­chen darf, dass man Lesun­gen hält und da seine Leser*innen trifft. Und das ein oder andere Buch möchte man auch gerne verkau­fen, denn irgend­wie muss man ja die Miete zahlen. Das alles geht nur, wenn man öffent­lich präsent ist und dafür ist Social Media natür­lich wich­tig. Ich wollte das lange nicht wahr­ha­ben, ich habe lange gedacht:

„Ich bin Autorin, ich will durch meine Bücher leben!“

Deswe­gen bin ich ziem­lich spät zur Party dazu­ge­sto­ßen. Aber ich habe auch aus ande­ren Grün­den sehr lange gezö­gert, mich als Autorin in sozia­len Netz­wer­ken aufzu­hal­ten. Vor allen Dingen habe ich immer gedacht: Das ist mir zu dreckig.

Denn die digi­tale Raucher­ecke, die ich da betre­ten würde, wäre eben keine, in der man zu dritt steht und über das Wochen­ende plau­dert, sondern eine, in der alle einan­der anbrül­len und anschreien, mit Stüh­len und Stei­nen werfen; in der jede*r alles besser weiß und alle dabei mit dem Finger auf die zeigen, die Fehler gemacht haben. Während man zurück­brüllt und den nächs­ten belehrt, sich über die eigene Pointe freut und im nächs­ten Moment von der Antwort belei­digt wird, stehen hinter dir drei Leute, die größer sind als du und die es ok finden, deswe­gen in regel­mä­ßi­gen Abstän­den auf deinen Kopf zu aschen.

Und immer, wenn du am wenigs­ten damit rech­nest, drückt jemand seine Ziga­rette an deinem Nacken aus und wenn du dich umdrehst, war niemand Schuld und niemand hat es gese­hen und sorry, aber das gehört hier nun einmal so dazu, kannst ja beim nächs­ten Mal einen Spazier­gang in der Sonne machen, wenn du damit nicht klar­kommst.

Um noch­mal auf die reale Welt zurück­zu­kom­men: Ich habe jahre­lang nicht verstan­den, warum so kluge Leute des öffent­li­chen Lebens, die ich schätze und bewun­dere, sich das antun. Warum sie nicht besser auf sich aufpas­sen, indem sie aufhö­ren, öffent­lich mit unklu­gen Leuten zu debat­tie­ren. Denn es liegt ja auf der Hand, dass es immer die glei­chen Leute sind, auf denen man glaubt, ohne Konse­quen­zen fürch­ten zu müssen, Ziga­ret­ten ausdrü­cken und rum-aschen zu können. Ich dachte immer: Das ist es ja wohl nicht wert.

Letzt­lich waren es Corona und der Lock­down, die mich in die Knie gezwun­gen bzw. in die Raucher­ecke gezo­gen bzw. zu Social Media getrie­ben haben. Als mein zwei­ter Roman erschien, waren keine Lesun­gen möglich und ich vermisste es so sehr, Kontakt zu meinen Leser*innen zu haben. Und da verstand ich erst, was für ein reges und offe­nes, was für ein schö­nes Gespräch über Lite­ra­tur im Allge­mei­nen genau dort statt­fin­det. Das hätte ich mir auch ohne Corona und Lock­down geben müssen: ganz normale Menschen, die über ihre Leiden­schaft reden. Ich glaube, es ist völlig egal, ob dein Hobby Lite­ra­tur oder Gärt­nern oder der Welt­raum ist, es gibt nichts Schö­ne­res, als auf andere Fans und Nerds zu tref­fen. Und seit­dem stehe ich also auch in der Raucher­ecke rum, auch wenn ich nicht so wahn­sin­nig viel dort mache.

So rich­tig etwas „gemacht“ habe ich erst, als im Septem­ber 2022 der Mord an Jina Mahsa Amini dazu führte, dass unzäh­lige Menschen in Iran zu lauten Protes­ten ansetz­ten. Es gab Hoff­nung, es gab aber auch von Anfang an sehr viele Tote zu bekla­gen. Regime wie das der Isla­mi­schen Repu­blik Iran fühlen sich in der Posi­tion, durch ihr Morden und ihre Gewalt alles tun und lassen zu können, was sie möch­ten und obwohl jede*r darüber Bescheid weiß, müssen sie ein gewis­ses Maß an Geheim­nis­tue­rei aufrecht­erhal­ten. Leichen werden verschleppt, um die eige­nen staat­li­chen Morde zu vertu­schen, um nur ein Beispiel zu nennen. Je weni­ger Indi­vi­dua­li­tät die Ermor­de­ten haben, je weni­ger man über die Menschen weiß, desto weni­ger mobi­li­siert es für weitere Proteste.

Social Media macht auf unglaub­li­che Weise genau das, was das Regime fürch­tet. Hier wird der Toten gedacht, hier werden sie durch geteilte Fotos und Videos wieder zu den Menschen, um deren Leben man trau­ert. Hier wird der Mut, den die Protes­tie­ren­den – die Frauen ohne Kopf­tü­cher, aber auch all die ande­ren – zeigen, in Bilder gefasst, geteilt, um die Welt geschickt. Hier setzen wir Hash­tags vor Namen und versu­chen, sie vor Hinrich­tun­gen zu schüt­zen.

© Craig Melville | Unsplash

Die Isla­mi­sche Repu­blik Iran hat im Jahr 2023 rund 900 Menschen exeku­tiert. Jede einzelne Exeku­tion ist als poli­tisch zu bezeich­nen, ganz gleich, was das Straf­de­likt war. Welche Zahl wir aber nicht kennen: Wie viele Exeku­tio­nen nicht statt­fan­den, weil der digi­tale Aufschrei so groß war, dass die Macht­ha­ber sich tatsäch­lich nicht trau­ten. Wie viele Gefan­gene frei­ge­las­sen wurden, weil die Fami­lien und ihre (digi­ta­len) Unterstützer*innen sich laut­hals wehren konn­ten. Es gibt keine Mess­latte für „Erfolge“, wenn das Grauen so groß ist, wie es in Iran der Fall ist. Aber es gibt dennoch die unum­gäng­li­che Tatsa­che, dass der digi­tale Kampf ein wesent­li­cher Bestand­teil des tatsäch­li­chen Kamp­fes um Demo­kra­tie und Menschen­rechte ist.

Als ich im siche­ren Deutsch­land saß und meine Time­line voll von diesen grau­en­haf­ten Bildern und zugleich von diesen Zeug­nis­sen digi­ta­ler Kunst war („Baraye“ von Sher­vin Haji­pour war der Sound­track dieser Zeit, und auch dieses Lied basiert auf Tweets, die der Sänger von ganz norma­len Revol­tie­ren­den zusam­men­ge­tra­gen hatte), war ich extrem froh, Zugang zu haben, wo mir sonst all die Jahre davor nur die trocke­nen, leider allzu oft fehler­haf­ten Bericht­erstat­tun­gen deut­scher Medi­en­häu­ser zur Verfü­gung stan­den.

Es gäbe zahl­lose weitere globale und natio­nale Konflikt­la­gen, in denen man auf ähnli­che Art und Weise benen­nen könnte wie Gerech­tig­keit – oder zumin­dest das Spre­chen über Unge­rech­tig­keit – nicht ohne die virtu­elle Raucher­ecke hätte erreicht werden können. Das klingt wie eine solche Binsen­weis­heit, dass man darüber fast vergisst, dass es gar kein Natur­ge­setz ist, dass ein solcher Raum auto­ma­tisch ein Raum der Gewalt sein muss. Es muss nicht stin­ken, nur weil Menschen digi­tal zusam­men­kom­men. Es muss auch keinen Rauch, es muss keine Gefah­ren für Einzelne geben, nur weil Menschen digi­tal zusam­men­kom­men.

Wir haben als Gesell­schaf­ten einen Raum des Austau­sches geschaf­fen, ohne vorab Regeln und Bedürf­nisse abzu­stim­men. Wir handeln diese inner­halb der digi­tal geführ­ten Diskus­sio­nen aus, während wir so etwas doch norma­ler­weise vor den eigent­li­chen Diskus­sio­nen klären soll­ten. Mit Blick auf das aufklä­re­ri­sche und progres­sive, demo­kra­tie­stüt­zende Poten­zial sozia­ler Medien nämlich ist es wirk­lich über­haupt keine folge­rich­tige Notwen­dig­keit, diese in der Raucher­ecke anzu­set­zen.

Wie viel schö­ner wäre es doch, ich hätte diesen Text so ange­fan­gen, wie ich ihn jetzt – als opti­mis­ti­scher Mensch – been­den werde: Wenn die sozia­len Medien ein Ort wären, dann wären sie die Gemein­schafts­kü­che einer Wohn­ge­mein­schaft. Alle kochen etwas, manch­mal mitein­an­der, manch­mal jede*r für sich, alle wissen, wer was beson­ders gut zube­rei­ten kann und wer dann doch eher andere Stär­ken hat. Manch­mal zeigt man einan­der, wie eine Zube­rei­tung geht, manch­mal expe­ri­men­tiert man gemein­sam, manch­mal einigt man sich: du Haupt­ge­richt, wir Nach­tisch.

„Wenn die sozia­len Medien ein Ort wären, dann wären sie die Gemein­schafts­kü­che einer Wohn­ge­mein­schaft.“

Manch­mal hat niemand aufge­räumt und alle ärgern sich über das Chaos, manch­mal strei­ten alle, weil sie sich gegen­sei­tig die Schuld dafür geben. Manch­mal bringt wochen­lang niemand den Müll raus, dann braucht man ein neues System und manch­mal ist der Kühl­schrank so voll, dass man sich nicht entschei­den kann. Immer verän­dert sich etwas, immer ist etwas im Wandel und immer werden alle satt. Hier raucht man eher nicht, wenn, dann nur auf dem Balkon. Jeden Tag riecht es dafür anders in der Küche und immer ist der Duft so, dass man wieder­kom­men möchte. Um zu essen, um zu reden, um zu strei­ten, um gemein­sam aufzu­räu­men und sich für den nächs­ten Tag zu verab­re­den.

Über die Autorin

© Tabea Trei­chel

Shida Bazyar, gebo­ren 1988 in Hermes­keil, studierte Lite­ra­ri­sches Schrei­ben und Kultur­jour­na­lis­mus in Hildes­heim. Neben dem Schrei­ben war sie viele Jahre in der Jugend­bil­dungs­ar­beit aktiv. Ihr Debüt­ro­man „Nachts ist es leise in Tehe­ran“ erschien 2016 im Verlag Kiepen­heuer & Witsch. Er erhielt zahl­rei­che Auszeich­nun­gen wie den Blog­ger­preis für Lite­ra­tur, den Ulla-Hahn-Autoren­preis und den Uwe-John­son-Förder­preis und wurde in mehrere Spra­chen über­setzt. 2021 wurde ihr zwei­ter Roman „Drei Kame­ra­din­nen“ veröf­fent­licht, der im glei­chen Jahr auf der Long­list für den Deut­schen Buch­preis stand.

@shida.baz

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