In dem E‑Magazin „Sichtweisen“ der Bildungsstätte Anne Frank beschäftigen wir uns mit dem alltäglichen Identitätsstruggle. Doch was heißt das genau? Was erwartet euch? Und wie ist das E-Magazin entstanden? Nava Zarabian verrät es in ihrem Einleitungsartikel.
Wir leben in herausfordernden Zeiten: Kriege, Konflikte, die Klimakrise und das Erstarken des Rechtsextremismus sorgen für Verunsicherung und Ängste. Wer sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren möchte, wird insbesondere in den sozialen Netzwerken mit zahlreichen, teils hitzig geführten Debatten und Hate Speech konfrontiert. Dabei entsteht der Eindruck, dass sich die Fronten immer weiter verhärten, was die Gestaltung von Diskursräumen massiv erschwert. Viele Menschen ziehen sich daraufhin aus diesen digitalen Räumen zurück – zu groß ist die Sorge, Fehler zu machen oder angegriffen zu werden.
Mit vereinten Kräften für eine demokratische Gesellschaft
Aber der Einsatz für eine demokratische und nachhaltige Gesellschaft und ihre Gestaltung kann nur mit vereinten Kräften gelingen. Deshalb ist es so wichtig dranzubleiben, sich an schwierigen Debatten (weiter) zu beteiligen und die Möglichkeiten, die soziale Netzwerke dabei bieten können, keinesfalls zu vernachlässigen. Denn sie sind heutzutage ein essenzielles Werkzeug, um unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen und ihnen Gehör zu verschaffen. Die Debatten mögen mühsam oder aussichtslos erscheinen, aber letztlich bringen sie uns weiter. Denn immer dann, wenn wir die Blickwinkel und Sichtweisen anderer wahrnehmen (z.B. die von marginalisierten Gruppen), erweitert sich unser Verständnis der Lebenswirklichkeit und Vielfalt in unserer Gesellschaft.
Identitätspolitik(en) – ein Kampfbegriff?
Der Begriff Identitätspolitik(en) ist heute oft Dreh- und Angelpunkt dieser Debatten im Netz. Dabei steht er in erster Linie für etwas Gutes oder zumindest gut Gemeintes, nämlich dafür, den Blick auf die Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen zu richten und diese im eigenen politischen Handeln zu berücksichtigen – z.B. durch gendersensible Sprache, mehr Sichtbarkeit in Medien und Kultur oder Antidiskriminierungsmaßnahmen. So weit, so gut.
Doch Identitätspolitik ist auch zu einem polemischen Kampfbegriff mutiert. Von kultureller Aneignung über „Opferkonkurrenz“ bis zur Cancel Culture: Identitätspolitische Themen werden teils heftig und emotional diskutiert. Dabei geht es um Fragen wie: Wer wird wie diskriminiert? Welche Begriffe sollte man aus seinem Wortschatz streichen? Warum sind manche Karnevalskostüme ein No-Go? Bei all dem steht aber vor allem eine entscheidende Überlegung im Fokus: Wie können wir eine gerechtere Gesellschaft gestalten und was kann jede*r einzelne dazu beitragen?
Über das Projekt „Identitäten ver_lernen“
An diesem wunden Punkt setzt das Projekt „Identitäten ver_lernen – Vielheit verhandeln“ der Bildungsstätte Anne Frank an, im Rahmen dessen dieses E‑Magazin entstanden ist. Ziel des Projekts ist es, junge Menschen dabei zu unterstützen, sich in identitätspolitischen Spannungsfeldern zurechtzufinden – sei es durch kostenfreie Ausbildungskurse (Spring und Winter School), Diskussionsveranstaltungen und natürlich auch dieses E‑Magazin. Dabei möchten wir Orientierung bieten, zum Perspektivenwechsel anregen und dazu motivieren, sich auf die manchmal kompliziert und unbequem erscheinenden Diskussionen unserer Zeit einzulassen – ob in den sozialen Netzwerken, im Ehrenamt oder im Alltag.
Junge Menschen fit machen für die Debatten unserer Zeit

© Niyousha Akbari
Die Bildungsstätte Anne Frank hat im Rahmen des Projektes „Identitäten ver_lernen“ 2023 und 2024 ein neues Ausbildungsformat umgesetzt – die Winter bzw. Spring School. Der fünftägige, hybride Kurs richtete sich an junge Menschen, die sich politisch oder gesellschaftlich in Vereinen, Verbänden oder in den sozialen Netzwerken engagieren. Der Workshop diente dem Austausch und der Reflexion zu den unterschiedlichen identitätspolitischen Spannungsfeldern und dem eigenen Aktivismus. Für einen extra Motivationsschub sorgte auch prominenter Besuch beim Workshop: Die Aktivist*innen Enissa Amani und Gianni Jovanovic waren jeweils zu Gast und machten den Teilnehmenden Mut, sich weiterhin für eine demokratische und vielfältige Gesellschaft zu engagieren. Amani und Jovanovic sind selbst in den sozialen Netzwerken und darüber hinaus politisch aktiv.
Was erwartet dich in unserem E‑Magazin?
In diesem E‑Magazin vereinen wir viele unterschiedliche Sichtweisen, Themenspektren und auch Erzählgenres – vom TikTok über Audio bis zum Essay.
Ein kleiner Teaser gefällig? Die preisgekrönte Autorin Shida Bazyar erzählt in ihrem literarischen Essay davon, warum sich soziale Netzwerke sowohl wie eine ungesunde Raucherecke als auch wie eine gemütliche Gemeinschaftsküche anfühlen können. Aktivist Gianni Jovanovic geht in seinem Text auf seine persönlichen Diskriminierungserfahrungen ein und plädiert für mehr Solidarität. Im Interview zu ihrem Buch „Das Ende der Unsichtbarkeit“ erklärt Hami Nguyen, warum anti-asiatischer Rassismus im deutschen Diskurs weiterhin unterrepräsentiert ist. Aktivistin Hanna Veiler fasst wiederum eindringlich ihre Erfahrungen als Jüdin in Deutschland in Worte.
Damit aber nicht genug! Der Journalist Tobias „Toxik“ Kargoll erläutert in seinem Video, warum die Hip-Hop-Kultur einen idealen Rahmen für den Einsatz gegen Klassismus bietet. Pia Ihedioha, Gründerin des „Magazin of Color“, setzt sich in ihrem Beitrag mit Repräsentation auseinander. Creator Rafid Kabir beschäftigt sich in seinen TikToks mit kultureller Aneignung an Karneval und beantwortet die Frage, warum rassistische Witze peinlich sind. Rosa Jellinek geht in ihrem TikTok dem Thema Fashion und Klassismus auf den Grund. Musikerin Maryam.fyi stellt die Frage, warum es so wichtig ist, sich als Künstler*in politisch zu engagieren. Bildungsreferentin Céline Wendelgaß beschäftigt sich mit ihrem Identitätsstruggle als Fußball-Fan. Und die Social-Media-Redakteurinnen der Bildungsstätte Anne Frank, Sarah Stemmler und Noémi Heldmann, nehmen die Darstellung von jüdischen Charakteren in Serien kritisch unter die Lupe.
Neugierig geworden? Dann klickt euch durch die „Sichtweisen“ und kommt mit auf eine Reise des Lernens, Verlernens und Perspektivenwechsels – für eine inklusive und pluralistische Gesellschaft, in der wir gemeinsam Räume für Vielfalt und Mehrstimmigkeit nutzen und schaffen.
Nava Zarabian
Leitung des Projekts „Identitäten ver_lernen“
Über die Autorin

Nava Zarabian studierte Islamwissenschaften und Musikwissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie zur Musikzensur in der Islamischen Republik Iran. Nach dem Studium war sie als Referentin für Islamismus im Netz tätig und beobachte Propaganda des sogenannten „IS“ im deutschsprachigen Raum. Von 2020 bis 2024 arbeitete sie als Fach- und Methoden-Expertin und Projektleiterin in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Sie ist außerdem regelmäßig als Speakerin in unterschiedlichen Formaten zu Gast und spricht über gesamtgesellschaftlich relevante Themen, wie z.B. Radikalisierung und Rassismus. Ihr Expertisespektrum reicht von Extremismus im Netz, Antirassismus, Gender bis hin zu popkulturellen Phänomenen wie Deutsch-Rap. Sie ist außerdem auf Instagram unter @navasgeht aktiv.