MeinungSoli­da­ri­siert euch! – Ein Plädoyer für mehr Zusam­men­halt

Akti­vist Gianni Jova­no­vic macht als quee­rer Rom immer wieder Diskri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen und beob­ach­tet, dass auch margi­na­li­sierte Grup­pen unter­ein­an­der nicht immer soli­da­risch sind. Er plädiert für mehr Zusam­men­halt und Unter­stüt­zung.

Jeden Tag erlebe ich Mikro- und Makro­ag­gres­sio­nen. Rassis­ti­sche und queer­feind­li­che Menschen terro­ri­sie­ren mich im Alltag. Ich lebe in einer Gesell­schaft, die mir jeden Tag vermit­telt: „Mach verdammt noch mal deinen Job, damit wir davon profi­tie­ren! Danach halt deine Fresse mit deinem brau­nen Gesicht!“ Ich erle­dige den Job und arbeite dafür drei­mal härter als so manch andere. Aber egal was ich tue, offen­bar reicht es nie.

Bin ich etwa nicht genug?

Du musst mehr arbei­ten. Du musst gerech­ter sein. Du musst stark sein und einen perfek­ten Körper haben. Du musst gebil­det und wort­ge­wandt sein. Du musst der perfekte Macher im Bett sein ... Mit jeder dieser Forde­run­gen wird mir mal unter­schwel­lig, mal sehr direkt signa­li­siert: Ich bin nicht GENUG.

Das kenne ich gut, denn das vermit­telte mir auch mein Vater, wenn er mich verprü­gelte. Ich wollte das nie still ertra­gen, konnte mich damit nie arran­gie­ren. Also entwi­ckelte ich Stra­te­gien, um mich zu retten. Aber zum Objekt gemacht zu werden, verletzt. Der Schmerz beglei­tet mich wie ein Mutter­mal. Ich bin gezeich­net, aber ich lebe damit und habe erkannt, dass die Gesell­schaft Dinge auf mich proji­ziert, die eigent­lich nichts mit mir zu tun haben. Ich bin weder der Gewalt­tä­ter noch der Krimi­nelle oder ihr Sexob­jekt.

Kleine Mehr­hei­ten sind nicht immer soli­da­risch

Viele Menschen haben ähnli­che, trau­ma­ti­sie­rende und gewalt­volle Erfah­run­gen wie ich gemacht. Als inter­sek­tio­nal diskri­mi­nierte Menschen haben wir viele Gemein­sam­kei­ten. Insbe­son­dere unter verschie­de­nen BIPoCs1 gibt es viele Schnitt­men­gen. Trotz­dem ist es leider falsch zu glau­ben, dass „kleine Mehr­hei­ten“2 per se soli­da­risch mitein­an­der sind. Auch unter ihnen spielt die Stel­lung in der Gesell­schaft eine Rolle. Der fami­liäre Back­ground, die finan­zi­elle Lage, der Bildungs­stand, aber auch andere Fakto­ren entschei­den darüber, wie verbun­den wir uns einan­der fühlen. Nicht alle BIPoCs haben die glei­chen Motive und Ziele.

Akti­vis­mus: Nicht fürein­an­der spre­chen, aber andere mitden­ken

Das merke ich auch in der akti­vis­ti­schen Arbeit. Oft sind die Gründe, sich poli­tisch zu enga­gie­ren, sehr simpel. Es geht um Macht und darum, wie jemand etwas vom reich gedeck­ten Tisch der weißen Domi­nanz­ge­sell­schaft abbe­kommt. Damit wir aber nicht für immer in einer Ich-Gesell­schaft leben, ist es wich­tig, auch Perspek­ti­ven von ande­ren kennen­zu­ler­nen, ihnen Raum zu geben und sie zu berück­sich­ti­gen.

© Surprising_SnapShots | Pixa­bay

BIPoCs sind verschie­den, sie brau­chen also nicht alle das Glei­che. Unser Ziel sollte selbst­be­stimmte, gleich­be­rech­tigte Teil­habe von allen sein. Deshalb soll­ten wir uns mehr fürein­an­der inter­es­sie­ren und umein­an­der bemü­hen. Es geht nicht darum, fürein­an­der zu spre­chen, sondern andere mitzu­den­ken, wenn sie nicht dabei sein können oder dürfen.

Respekt statt Igno­ranz

Oft erlebe ich zum Beispiel, dass Sinti*zze & Rom*nja, trans Perso­nen und behin­derte Menschen verges­sen werden, wenn es um Medi­en­be­richte, Anti­ras­sis­mus-Projekte oder Jobs geht. Sie werden von den Stake­hol­dern nur dann einge­la­den, wenn es ihnen selbst Vorteile bringt. Noch schlim­mer ist es, wenn margi­na­li­sierte Menschen andere ausgren­zen oder selbst Rassis­mus, Hass und Gewalt ausüben. Doch noch immer erle­ben trans Perso­nen Diskri­mi­nie­rung in der quee­ren Commu­nity oder migran­ti­sche Grup­pen hetzen gegen­ein­an­der ... Wenn das geschieht, treten sie das Andenken von Aktivist*innen mit Füßen, die vor Jahr­zehn­ten für uns geblu­tet und gekämpft haben. Hätten viele von ihnen nicht für uns ihr Leben gelas­sen, würden uns wesent­li­che Rechte noch heute verwei­gert.

Mein Wunsch: Erin­nert euch an unsere akti­vis­ti­schen Geschwis­ter und ihr poli­ti­sches Vermächt­nis. Seid acht­sa­mer und respekt­vol­ler mitein­an­der. Schenkt Liebe in einer noch immer unge­rech­ten Welt. Seid stark mit- und fürein­an­der. Zeigt echte Soli­da­ri­tät.

Gianni Jova­no­vic, gebo­ren 1978 in Rüssels­heim, ist Unter­neh­mer, Akti­vist, Perfor­mer und war 2023 Co-Host bei der Reali­ty­show „Drag Race Germany“. Als Kind einer Rom*nja-Familie und homo­se­xu­el­ler Mann erlebt er offe­nen Rassis­mus und wird täglich mit Vorur­tei­len konfron­tiert. Seit Jahren kämpft er dage­gen und gilt als eine der lautes­ten Stim­men der Rom*nja- und Sinti*zze-Community. Er setzt sich auch auf Insta­gram (@giannijovanovic78) und TikTok (@giannijovanovic_official) inter­sek­tio­nal für die Rechte von Sinti*zze und Rom*nja sowie die der quee­ren und BIPoC-Commu­ni­tys ein. Außer­dem grün­dete er verschie­dene Initia­ti­ven, hält Vorträge oder leitet Work­shops.

Zusam­men mit Oyin­da­mola Alashe verfasste er das Buch „Ich, ein Kind der klei­nen Mehr­heit“, das 2022 im Blumen­bar Verlag erschie­nen ist. Er sagt: „Wir sind die Kinder der klei­nen Mehr­hei­ten. Unsere Stim­men müssen in der Gesell­schaft gehört werden.“

gianni-jovanovic.de
@giannijovanovic78
Gianni Jova­no­vic
@giannijovanovic_official
@GianniJovanovic

  1. Black, Indi­ge­nous, and People of Color ↩︎
  2. Gianni Jova­no­vic verwen­det den Begriff „kleine Mehr­hei­ten“ statt „Minder­hei­ten“, um auf margi­na­li­sierte Grup­pen in der Gesell­schaft aufmerk­sam zu machen. Es handelt sich dabei um zahlen­mä­ßig klei­nere Grup­pen als die hete­ro­nor­ma­tive, weiße Domi­nanz­ge­sell­schaft, die aber viel­fäl­tig in ihren Erfah­run­gen und Perspek­ti­ven sind. Der Begriff dient dem Empower­ment der Grup­pen. ↩︎

Gleich weitersagen!