Text & VideoJüdi­sche Charak­tere in Serien: Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren oder Klischee?

Für wen bieten Serien Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren? Oft sind die Protagonist*innen weiß, hetero, able-bodied – und christ­lich. Die Redak­teu­rin­nen Noèmi Held­mann und Sarah Stemm­ler haben sich drei Serien ange­schaut, die unter­schied­lich mit jüdi­schen Charak­te­ren umge­hen.

Eine gute Serie kann so vieles sein: Beglei­tung durch die schlimms­ten Phasen der Puber­tät, Trost­pflas­ter bei einer fiesen Erkäl­tung, siche­rer Hafen für erschöpfte Erwach­sene, die sich bei den Lieb­lings­cha­rak­te­ren ihrer Jugend ausru­hen wollen. Aber für wen bieten Serien eigent­lich Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren? Oft sind die Protagonist*innen weiß, hetero, able-bodied1 – und christ­lich. Würde man den Bech­del-Test, der erfun­den wurde, um weib­li­che Reprä­sen­ta­tion in Filmen zu messen, auf jüdi­sche Figu­ren anwen­den, würden vermut­lich viele Filme und Serien durch­fal­len. Jüdi­sche Elemente kommen in Serien häufig nur am Rande vor oder werden stark stereo­typ darge­stellt. Wir schauen uns drei Serien an, die unter­schied­lich mit jüdi­schen Charak­te­ren umge­hen – und bei denen uns teil­weise erst im Rewatch aufge­fal­len ist, dass sie über­haupt jüdi­sche Elemente haben.

„Grey’s Anatomy“ ist DIE ameri­ka­ni­sche Kran­ken­haus­se­rie – sie läuft seit 2006, hat inzwi­schen 19 Staf­feln und der Erfolg scheint nicht abzu­rei­ßen. Lob bekommt die Serie vor allem für ihren diver­sen Cast und ihre komple­xen Figu­ren, zu denen in der 14. Staf­fel auch ein jüdi­scher Arzt hinzu­ge­kom­men ist. Auf TikTok ist Levi Schmitt, gespielt von Jake Borelli, Thema vieler Videos und ein abso­lu­ter Zuschauer*innenliebling. Levi ist schwul und jüdisch, und bringt immer wieder jiddi­sche Wörter und Tradi­tio­nen in die Serie ein. So erklärt er in einer Folge der Chef­ärz­tin Bailey die Schiv'a2, da sie gerade ihre Mutter verlo­ren hat. TikToker*innen feiern Levi Schmitt und seine Fami­lie als gelun­gene jüdi­sche Reprä­sen­ta­tion: Sie zeigen Ausschnitte einzel­ner Folgen und lachen darüber, dass Levis Mutter ihrer eige­nen jüdi­schen Mutter ähnelt. Eine TikTo­ke­rin merkt aller­dings auch an, dass es noch besser wäre, hätte man Levi mit einem jüdi­schen Schau­spie­ler besetzt. Das bringt uns zu einer der erfolg­reichs­ten Teenie-Serien der 2000er, deren jüdi­scher Prot­ago­nist auch einen jüdi­schen Schau­spie­ler groß heraus­ge­bracht hat ... 

Die bekann­teste jüdi­sche Refe­renz aus „The O.C.“ ist „Chris­muk­kah“ – eine Kombi­na­tion von Christ­mas und Hanuk­kah, „the grea­test super holi­day known to mankind“. Erfun­den wird dieser beson­dere Feier­tag von Seth Cohen, dem Prot­ago­nis­ten der Teenage-Drama-Serie. Seth hat eine christ­li­che Mutter (Kirs­ten Cohen) und einen jüdi­schen Vater (Sandy Cohen), die zur High Society des wohl­ha­ben­den bis super­rei­chen Newport in Kali­for­nien gehö­ren. Seth ist nerdig, selbst­iro­nisch, unsi­cher – ein Außen­sei­ter zwischen coolen Surfern und musku­lö­sen Water­polo-Spie­lern. Bis die Fami­lie Ryan aufnimmt, einen jungen Mandan­ten von Sandy Cohen, der als Pflicht­ver­tei­di­ger arbei­tet. Ryan steht für alles, was Seth nicht ist: Im Fein­ripp-Hemd kommt er als Arbei­ter­kind daher, das gewohnt ist, sich zu prügeln und aus Geld­not auch mal versucht, ein Auto zu klauen. Natür­lich werden Ryan und Seth beste Freunde. Während die Serie mit über­trie­ben drama­ti­schen Story­li­nes aufwar­tet und versucht, zwischen Pool-Partys und Privat­schule eine Aufstei­ger­ge­schichte zu erzäh­len, spielt auch das Jüdisch­sein von Seth und seinem Vater Sandy immer wieder eine Rolle. Ob beim morgend­li­chen Bagel, den Seder-Feier­lich­kei­ten oder dem wieder­keh­ren­den Chris­muk­kah – oft sind es jüdi­sche Elemente, die die Fami­lie zusam­men­brin­gen. 

Und auch wenn „The O.C.“ in vieler­lei Hinsicht nicht beson­ders progres­siv ist: Seth und Sandy werden als Vorbil­der darge­stellt, als starke, sympa­thi­sche und selbst­kri­ti­sche Charak­tere, die mit ihrem Jüdisch­sein selbst­be­wusst umge­hen. Bei der Serie, die wir uns als letz­tes anschauen, wurden die jüdi­schen Elemente dage­gen viel mehr versteckt …

„Where you lead, I will follow“ – so beginnt der Theme-Song der Serie „Gilm­ore Girls“, die seit Anfang der 2000er-Jahre eine treue Fange­meinde hat. Was wenige wissen: Der Song­text ist der hebräi­schen Bibel entnom­men und bezieht sich auf einen Dialog im „Buch Ruth“. Die Wohl­fühls­e­rie über die (manch­mal beängs­ti­gend) enge Mutter-Toch­ter-Bezie­hung von Lorelai und Rory Gilm­ore ist voll von halb versteck­ten jüdi­schen Elemen­ten. Da wären die frei­täg­li­chen Dinner-Abende bei Emily Gilm­ore, Lorelais Mutter, die abso­lut verpflich­tend sind und an Schab­bat erin­nern. Oder die Chup­pah, die Lorelai kurz vor der Hoch­zeit geschenkt bekommt – ein Balda­chin, unter dem jüdi­sche Paare tradi­tio­nell während der Hoch­zeits­ze­re­mo­nie stehen. Und so viele weitere Details: jiddi­sche Wörter, die teils zum running gag werden, der kleine Deko-Rabbi in Lorelais Wohn­zim­mer, der echte Rabbi der Klein­stadt, der sich die Kirche mit dem christ­li­chen Pries­ter teilt.

Während viele dieser Elemente als Reprä­sen­ta­tion jüdi­scher Kultur gedeu­tet werden können, gibt es auch eher uner­freu­li­che Stereo­type. Paris Geller, Rorys High School Freun­din, ist der einzige expli­zit als jüdisch gela­belte Charak­ter – sie wird als neuro­tisch und obses­siv darge­stellt und braucht wegen ihrer „Empfind­sam­keit“ sowohl einen Thera­peu­ten als auch einen Life Coach. Man muss Paris nicht nega­tiv wahr­neh­men, aber einen jüdi­schen Bech­del-Test würde Gilm­ore Girls wohl nicht bestehen, zu versteckt sind die Anspie­lun­gen und zu klischee­haft das Offen­sicht­li­che.  

In der Serie „Gilm­ore Girls“ findet sich so manche Anspie­lung auf die jüdi­sche Iden­ti­tät der Protagonist*innen. Doch ist das gelun­gen umge­setzt oder eher proble­ma­tisch?

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Eine spätere Serie der jüdi­schen Regis­seu­rin Amy Sher­man-Palla­dino geht viel offe­ner mit jüdi­scher Iden­ti­tät um: „The Marve­lous Mrs. Maisel“, erst­aus­ge­strahlt 2017, endete dieses Jahr mit der fünf­ten Staf­fel. Doch auch hier sind viele Zuschauer*innen hin und her geris­sen, zwischen der Kritik an stereo­ty­per Darstel­lung und Reprä­sen­ta­tion.

Fällt dir ein Beispiel für gelun­gene Reprä­sen­ta­tion ein? Oder möch­test du endlich mal eine Serie kriti­sie­ren, die jüdi­sche Charak­tere viel zu platt darstellt? Schreib deine Gedan­ken, Vorschläge und Ideen gerne in die Kommen­tare bei unse­rem Insta­gram-Posting zu jüdi­schen Charak­te­ren in Serien oder in die DMs.

Dieser Beitrag wurde erst­mals 2023 im Rahmen der Reihe „(Un)hyped“ der Bildungs­stätte Anne Frank veröf­fent­licht. Dabei nehmen Kolleg*innen aus der Bildungs­stätte in regel­mä­ßi­gen Abstän­den Filme, Serien, Bücher, Games, Genres und andere popkul­tu­rell rele­vante Formate kritisch (oder begeis­tert!) und aus persön­li­cher Perspek­tive unter die Lupe.

Die Beiträge werden sowohl im Blog der Bildungs­stätte als auch in ihren sozia­len Netz­wer­ken publi­ziert. Zum Blog

Über die Autorin­nen

© Felix Schmitt

Noémi Held­mann ist Jour­na­lis­tin und hat an der Hoch­schule Darm­stadt-Dieburg Online­jour­na­lis­mus studiert. Nach ihrem Abschluss begann sie als Social-Media-Redak­teu­rin bei der Bildungs­stätte Anne Frank.

© Florian Menath

Sarah Stemm­ler hat Poli­ti­sche Theo­rie an der Goethe-Univer­si­tät in Frank­furt am Main studiert und in ihrer Abschluss­ar­beit die Defi­zite der deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur unter­sucht. Seit 2023 ist sie Social-Media-Redak­teu­rin bei der Bildungs­stätte Anne Frank.

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Bildungs­stätte Anne Frank


  1. Die Bezeich­nung able-bodied beschreibt Menschen, die keine körper­li­che Behin­de­rung und damit eine gesell­schaft­lich privi­le­gierte Posi­tion haben, welche in der Regel nicht benannt wird, da sie als „normal“ ange­se­hen wird. Dadurch, dass man diese Posi­tion benennt, sollen die hier­ar­chi­schen Struk­tu­ren sicht­bar gemacht werden. ↩︎
  2. Als Schiv’a wird im Juden­tum die Zeit der Trauer in der ersten Woche unmit­tel­bar nach dem Begräb­nis von nahe­ste­hen­den Perso­nen bezeich­net. Sie beginnt für die Hinter­blie­be­nen nach der Bestat­tung.  ↩︎

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