Die iranisch-deutsche Pop-Musikerin Maryam.fyi erzählt in ihrem Beitrag von Schmerz und Diskriminierung – wie sich diese in ihrer Arbeit als Künstlerin widerspiegeln und wie sie Hoffnung im Miteinander findet.
Der Frühling ist langsam da. Und mit „langsam“ meine ich endlich! Es ist Ende März 2024 und ich kann draußen im Café sitzen, bloß sind es heute schlagartig über 20 Grad und ich weiß nicht wirklich, wie ich mit der abrupt eingetretenen Hitze umgehen soll. Willkommen in der Klimakrise in Berlin. Neben mir sitzt ein Pärchen. Er schnieft unentwegt vor sich hin, kann dem Frühling (also den Pollen) offensichtlich auch nicht entfliehen. Letzte Woche haben wir beim Feiern von Nouruz1 am Abend noch in Winterjacken vor uns hin gefröstelt. Oh well.
Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Damit mich vorzustellen – oder mich aufzuregen über das Klima in unserem Land in diesem Jahr (und damit meine ich nicht bloß das Wetter)? Oder damit, wie ich für meinen temporären Frieden sorge und geübt habe, zu verdrängen und zu leben?
Kostenlose Bildungsarbeit beim ersten Date?
Wie wäre es mit einer kleinen Geschichte? Kürzlich war ich auf einem Date. Online-Dating (über die App „Hinge“). Er ist objektiv sehr klug, interessiert und höflich. Die erste Stunde ist total nett. Dann sprechen wir über Dating-Fails und er erzählt von einer vorherigen Verabredung: Sie war PoC und beendete nach 30 Minuten abrupt das Gespräch, nachdem er nebenbei erwähnt hatte, dass er als italienisch-deutscher und weißer cis2 Mann Rassismuserfahrungen gemacht habe. Puh. Ich muss kurz schlucken. Mein erster Impuls ähnelt ihrem: Das Gespräch möglichst schnell zu beenden und zu gehen. Und jetzt? Kostenlose Bildungsarbeit auf einem Date? Soll ich ihn darüber aufklären, dass er wahrscheinlich Diskriminierung, unfaire Behandlung und Anfeindungen, ziemlich sicher aber keinen Rassismus erfahren hat? Recht anstrengend an einem späten Dienstagabend.
Er möchte gern ein Ally3 sein, das gibt er klar zu verstehen, aber natürlich fühlt er sich auch in die Ecke gedrängt, als ich ihn mit seiner sehr konkreten Fehlzuordnung und Wissenslücke konfrontiere und auf Alice Hasters4 Literatur verweise. „Wie gehe ich mit dieser Situation feinfühlig um?“, frage ich mich. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen, aber das hatte ich schon im Moment des ersten Zusammentreffens entschieden.
Privilegien-Check: Was zwischen uns steht
Nach dem Abend muss ich noch lange über diese Konversation nachdenken. Mir ist klar: Zwischen uns stehen vor allem Privilegien. Seine – die er sich anscheinend noch nicht bewusst genug vor Augen geführt hat. Meine – die mir als iranisch-deutsche, cis Frau, geboren und aufgewachsen hier in Deutschland, besonders in den letzten zwei Jahren wieder und wieder unter die Nase gerieben werden, sobald ich mich mit den Protesten im Iran oder unterdrückten Völkern anderswo auseinandersetze.
Ich bin froh, dass ich nicht einfach aufgestanden und gegangen bin, auch wenn das mein erster emotionaler Impuls war. Sicherlich hätte ich mich schneller „befreit“ gefühlt. Aber ich hätte ohne Zweifel einen offenen Gesprächspartner und möglicherweise wirklich einen guten Ally verloren. Und auch darüber haben wir an diesem Abend noch lange gesprochen und diskutiert. Darüber, wie Allyship aussehen kann und warum weiße cis Männer die MVPs5 der Allys sind.
Auf der Suche nach Verbündeten
Ich verstehe jede Person mit Migrationsgeschichte oder Rassismuserfahrung, die sich nicht mehr auf diese Gespräche einlassen möchte. Aber ich möchte auch immer wieder versuchen, Verständnis für eben solche cis Männer aufzubringen. Einfach, weil ich meinen Optimismus noch beibehalten und die Hoffnung noch nicht aufgeben möchte. Die Hoffnung darauf, dass wir über Diskurse zu einem anderen Miteinander finden und statt uns voneinander abzugrenzen, zusammen ein neues Kollektivgefühl erschaffen können.
Die Krisen unserer Zeit
Correctiv-Recherchen, Gender-Verbot, Europa- und Landtagswahlen, Israel-Gaza-Krieg, Hungersnot im Sudan, Aggressionen des Islamischen Regimes im Iran, fliehende Menschen im Mittelmeer. Die Liste scheint endlos. Der Schmerz wird mehr und mehr. Mein Kopf ist überflutet, überfordert von Ungerechtigkeiten und Dramen, die sich um mich herum abspielen und mich bisweilen unbeschadet lassen. Noch.
Unsere Welt beeinflusst mein Herz – Emotionalität in der Pop-Musik
Als Popmusikerin lebt meine Arbeit von Emotionalität. Unsere Welt beeinflusst mein Herz, meine Gedanken, meine Träume, Wünsche, Ängste und Visionen. Meine Sichtbarkeit im Internet wird aber von Algorithmen bestimmt. Ein Zwiespalt, vom dem ich immer wieder überfordert bin. Seit jeher fühle ich mich stark der Gerechtigkeit verpflichtet. Wie bleibe ich mir treu, während Algorithmen mich unsichtbar machen, sobald ich das Themenfeld der stumpfen Unterhaltung verlasse?
Wir sind nicht allein
Ich versuche, mir die Grabenkämpfe in Kommentarspalten vorerst zu ersparen. Vielleicht kann ich mich dadurch dazu überwinden, diese eingesparte Energie in echten Gesprächen aufzuwenden. Ob das die Lösung ist? Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh zu sehen und zu spüren, dass ich nicht allein bin. Dass an vielen Stellen (in meinem Umfeld) kluge Menschen aus allen Altersklassen Initiativen ergreifen und sich organisieren. Das ist, was mir Hoffnung verleiht: Mich zusammen mit anderen in solchen Initiativen zu involvieren, vielleicht nicht zwingend mit meinem Namen und Gesicht auf der Bildfläche, aber mit einem Netzwerk an engagierten Menschen und Möglichkeiten, die die gleichen Hoffnungen teilen.
Das Paar neben mir ist aufgestanden und ich nehme vorsichtig Augenkontakt mit einem anderen Gast auf. Wir haben beide Kopfhörer in den Ohren und auf seiner Brust glänzt ein Wassermelonen6-Pin. Dann rufe ich meine Schwester an. Ein Moment, der in mir immer besondere Ruhe und Glück hervorruft. Mit meinem Hafer-Flat-White für 4,80 Euro in der Hand blinzele ich in die Sonne und bin kurz dankbar für den Moment.
Über die Autorin

Maryam.fyi ist eine deutsche Musikerin mit iranischen Wurzeln. Sie ist aufgewachsen in Südhessen, lebt aber inzwischen in Berlin. Nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums, folgte sie ihrer Leidenschaft für die Musik. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie ihren ersten Song. Als im Jahr 2022 die Proteste im Iran begannen, zeigte sie ihre Solidarität, indem sie bei einem Konzert in Berlin das iranische Lied „Baraye“ coverte. Dieses Cover ging schnell viral und erlangte große Anerkennung. Sie wurde zu einem musikalischen Sprachrohr der iranischen Solidaritätsproteste in Deutschland. Inspiriert von ihrem Engagement für die Themen Heimat und Freiheit begann Maryam.fyi daraufhin, eine Kolumne für das Magazin „Diffus“ zu schreiben. Maryam.fyi macht hauptsächlich Popmusik in deutscher Sprache. Sie ist auf Instagram (@Maryam.fyi) und TikTok (@maryam.fyi) aktiv.
- Nouruz ist das traditionelle, persische Neujahrsfest zum Frühlingsbeginn und eines der ältesten Feste der Welt. Nouruz bedeutet übersetzt „neuer Tag“. ↩︎
- Cis bzw. cisgeschlechtlich bedeutet, dass du dich mit der Geschlechtsidentität identifiziert, die dir meist anhand äußerer Merkmale bei der Geburt zugewiesen wurde. ↩︎
- Ein*e Ally ist eine Person, die selbst nicht zu einer marginalisierten Gruppe gehört, aber diese Gruppe aktiv unterstützt. Der Begriff Ally bedeutet übersetzt so viel wie „Verbündete*r“. Ein*e Ally engagiert sich gegen Intoleranz, informiert andere über die Anliegen marginalisierter Gruppen und nutzt ihre*seine Privilegien und ihre*seine Position außerhalb dieser Gruppe, um sich für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung einzusetzen. Bekannt ist der Begriff vor allem in der LGBTQA+ Szene und durch die Black-Lives-Matter-Bewegung. ↩︎
- Alice Hasters ist eine deutsche Journalistin, Autorin und Podcasterin. 2019 erschien ihr Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“, das zum Bestseller wurde. Zusammen mit Maximiliane Haecke betreibt sie den Podcast „Feuer & Brot“. 2023 erschien ihr Buch „Identitätskrise“. ↩︎
- MVP ist die Abkürzung von Most Valubale Player. Der Begriff steht im Mannschaftsport für den „wertvollsten Spieler“. In diesem Kontext steht es für eine*n wichtigen Verbündeten. ↩︎
- Die Wassermelone ist ein wiederkehrendes Symbol in Palästina-solidarischen Protesten. Nicht nur, weil die Wassermelone eine verbreitete Kulturpflanze in Palästina ist, sondern auch weil ihre Farben (rot, grün, weiß und schwarz) an die Farben der palästinensischen Flagge erinnern sollen. Als Reaktion auf Verbote der Verwendung der palästinensischen Flagge in einigen Gebieten oder bei Demonstrationen, etablierte sich die Wassermelone als ein Ersatz für die Flagge und damit als ein Symbol für Palästina. ↩︎